Eigenwillig und in höchstem Mass kreativ: Die Molekularküche gilt als Nouvelle Cuisine des 21. Jahrhunderts. Sie steht für experimentelle Kochkunst und für Genuss mit allen Sinnen.
Die mit Agar-Agar gelierten Senf-Rhomben und die Cervelat-Rhomben in der Brotbouillon versenken, den Schaum, der nach Wald duftet, darauf geben und alles mit knusprigen Bröseln toppen … Was sich so futuristisch anhört, sind Kreationen aus der Molekularküche, von deren kulinarischen Genüssen unzählige Menschen begeistert sind. Die Molekularküche ist ein Teil der Molekulargastronomie, einer Wissenschaft , die bereits vor fast zwanzig Jahren begründet wurde. Sie befasst sich mit den biochemischen und physikalisch-chemischen Prozessen bei der Zubereitung und beim Genuss von Speisen und Getränken. Das Ziel der Molekulargastronomie ist es, klassische Rezepte zu erklären, sie eventuell zu verbessern, und mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen völlig neue Kompositionen zu schaffen.
Aus diesem naturwissenschaftlichen Ansatz hat sich ein neuartiger Stil der Haute Cuisine entwickelt: die Molekularküche. Der bekannteste Vertreter ist der spanische Koch Ferran Adrià. Seine Molekularküche verwendet neben den üblichen Küchentechniken auch experimentelle aus der Chemie und der Lebensmittelindustrie, um Gerichte mit völlig neuartigen Eigenschaften zu erzeugen. So kreiert er beispielsweise Schäume und Gelees aus Gemüse, heißes Eis, das beim Abkühlen im Mund schmilzt, Bonbons aus Olivenöl oder Kaviar aus Melonen. Durch die überraschenden Kombinationen von Aromen, süß und salzig, von Temperaturen und Texturen sind diese Gerichte zugleich eine Schule der Wahrnehmung und nähern sich den Methoden der modernen Kunst. Ferran Adrià bietet keine klassischen Menüs an. Seine Menüs sind differenzierte, ausgefeilte, höchst komplizierte kleine Gänge, 25 bis 30 an der Zahl!
Rohes Gemüse wird mit Hightech aus der Medizintechnik bearbeitet und Salzstreuer mit duftendem Kunstnebel befüllt. Er würzt Gemüse-Gelatine-Streifen mit Holzkohlenöl und formt Olivenöl zu Bonbons. Der katalanische Kochvirtuose füllt Tintenfi sch mit einer Mischung aus Ingwer und Kokosnuss, serviert eine Mousse aus Muschelfl eisch in einem Mantel von hauchdünnem Schweinefett und injiziert Eiern vor dem Kochen Kaviarpaste.
Der minutiöse Aufwand für das Kreieren und Kochen ist so hoch, dass Ferran Adrià pro Saison stets nur eine Menüfolge anbietet. Vor zwei Jahren kostete ein Menü mit 30 Gängen 175 Euro. Einen Tisch in seinem Restaurant muss man lange im Voraus reservieren und seine Kochbücher sind heiß begehrt: Mit Kochbüchern verdiente der Kochexperimentalist schon im Jahr 2004 mehr als mit seinem Restaurant. Auch in Deutschland gibt es etliche Vertreter der Molekularküche, u.a. haben sich Heiko Antoniewicz, Juan Amador, Dietmar Hölscher und Angelo Zicaro dieser Kochkunst verschrieben. Sie wenden verschiedene Techniken aus der Lebensmittelindustrie an, um neue Genüsse zu kreieren, so etwa die Methode der Lyophilisation (Gefriertrocknung) von Obst und Gemüse. „Was äußerst kompliziert klingt, ist es nicht“, meint Angelo Zicaro, „viele dieser Gerichte kann man mit wenig Aufwand selbst herstellen.“ Dazu nennt er ein paar Grundlagen.
Die Molekularküche basiert auf vier unterschiedlichen Methoden: der Spherifikation, der Gelifikation (Gelierung), der Emulsifikation (Emulsionen) und der Verdickung. Bei der Spherifikation geht es um die Zubereitung von Sphären aus Flüssigkeiten, also festen Körpern in Form von Kaviar, Ravioli, Gnocchi und anderen kugelförmigen Gebilden. Bei der Basis-Spherifi kation werden Sphären mit extrem feiner Membran hergestellt. Diese können am Gaumen ihre ganze Magie entfalten. Dazu wird eine Flüssigkeit mit Algin/Algizoon in ein Calcicbad getaucht, wobei sich eine kompakte Kugel bildet. Bei der inversen Spherifikation wird eine Flüssigkeit mit Gluco/Calazoon in ein Bad aus Algin/Algizoon getaucht, was bewirkt, dass sich selbst Produkte mit hohem Alkoholgehalt so zu dauerhaften Sphären formen lassen, die sich als Füllung für allerlei Kreation eignen. Der vielbesprochene Fake-Kaviar wird zum Beispiel so hergestellt.
Gelieren gehört zu einem der wichtigsten Experimente in der Küche. Ob für Marmelade, für Sülzen oder Terrinen – Gelatinen haben in der Küche eine wichtige Funktion. „Wasser in eine feste Form zu bringen, ohne es zu gefrieren, das ist die Aufgabe von Geliermethoden aller Art“, bringt es Prof. Dr. Th omas Vilgis in seinem Buch „Die Molekül- Küche“ auf den Punkt. Bis vor einigen Jahre wurden zum Gelieren ausschließlich Gelatine-Blätter verwendet. In den 90er Jahren wurde das Algenextrakt Agar-Agar als Geliermittel bekannt. Das aus Rotalgen gewonnene pfl anzliche Geliermittel ist heutzutage weit verbreitet und wird als Agar oder Agazoon angeboten. Es besteht aus langen fadenförmigen Molekülen, ist farblos, geschmacksneutral und geliert im Gegensatz zu Pektin ohne Zugabe von Zucker. Die Gelierfähigkeit von Agar-Agar liegt um ein Vielfaches über der von Gelatine, vor allem verfestigt es sich problemlos bei Zimmertemperatur. Voraussetzung ist, dass er mindestens zwei Minuten gekocht werden muss, um vollständig zu gelieren. Ebenfalls aus Algen gewonnen werden die Stoffe Kappa und Iota oder Iotazoon. Kappa sorgt für ein Gel mit fester und spröder Konsistenz. Wenn es einmal geliert ist, hält es Temperaturen bis 60 Grad Celsius aus. Iota bzw. Iotazoon werden als feines Puder in kalter Flüssigkeit aufgelöst und dann auf 80 Grad Celsius erhitzt. Beim Abkühlen wird dieses Geliermittel dann fest, um nach einer Ruhepause jedoch in seine ursprüngliche Form zurückzukehren. Für die Zubereitung fester Gels wird auch gerne Gellan oder Gellazoon verwendet sowie Metil/Celluzoon. Dieses Geliermittel aus pflanzlicher Zellulose geliert beim Erhitzen. In kaltem Zustand wirkt es verdickend. Beim Abkühlen verliert Metil/Celluzoon jedoch seine gelierende Wirkung und wird flüssig.
Die dritte Methode, die in der Molekularküche angewandt wird, ist die Emulsifikation. Natürlich stellt man auch in der traditionellen Küche Emulsionen her. Dabei geht es um die Verbindung von zwei Aggregaten, die sich eigentlich nicht mischen lassen, wie zum Beispiel Fett und wässrige Medien. „Das gemeinsame Auftreten unterschiedlicher Geschmackskomponenten ist aber erwünscht, denn verschiedenartige Substanzen lösen unterschiedliche Geschmacksgefühle aus“, erklärt Thomas Vilgis. „Schon aus diesem Grund müssen wir Wasser und Öl zusammenbringen, und zwar so fein verteilt, dass die Geschmackspapillen auf der Zunge dies als Einheit wahrnehmen. Solche fein verteilten Wasser-Öl-Gemische nennt die Wissenschaft Emulsionen.“ Die bekanntesten Beispiele für Emulsionen kennen Sie alle: Es sind Vinaigrettes, Mayonnaisen oder Saucen. In der Molekularküche verwendet man Mittel wie Lecite/Emulzoon, Sucro und Glice als Phasenvermittler, so genannte Emulgatoren, die für das Zusammengehen sorgen. Als vierte Methode bedienen sich die kreativen Köche der der Verdickung, Espesantes genannt. Herkömmliche Verdickungsmittel wie Stärke und Mehl haben den Nachteil, dass man sie den Speisen in großen Mengen beigeben muss. Letztlich beeinflusst das auch immer den Geschmack. Das in der Molekularküche verwendete Xantana bzw. Xanthazoon ist ein Verdickungsmittel, welches bereits in kleinsten Mengen große Wirkung erzielt ohne den Geschmack des Gerichts zu beeinträchtigen.
Zahlreiche Bücher beschäftigen sich mit der Avantgarde- Küche aus Spanien, die zur Nouvelle Cuisine des 21. Jahrhunderts erhoben wird. Im Internet finden sich viele Beiträge, Rezepte und Blogs zum Thema. Vielleicht möchten Sie sich ja intensiver mit den Zubereitungstechniken, den Verarbeitungs- und Kombinationsspielereien beschäftigen. Anhänger der Molekularküche schwärmen von einem Genuss mit allen Sinnen. Auf jeden Fall ist es eine Kunst, mit Lebensmitteln eine Symbiose aus Ästhetik, Geschmack, Geruch und Textur herzustellen.