Nur wenige Seemeilen vor der französischen Kanalküste erheben im Golf von St. Malo vier ungleiche Schwestern ihr stolzes Haupt aus den Fluten. Und obwohl sie geopolitisch mitten im Herzen Europas liegen, ticken die Uhren hier im wahrsten Sinne des Wortes anders als auf dem Kontinent. Nicht nur, weil (wie in Großbritannien) Greenwich-Zeit gilt.

Ursprünglich waren die Kanalinseln Teil des Herzogtums Normandie. Doch im Zuge des Aufstiegs von Wilhelm dem Eroberer zum König von England im Jahre 1066 wurden sie für knapp 150 Jahre Teil eines mächtigen Anglo-Normannischen Doppelreiches. 1204 verlor der Bruder von Richard Löwenherz, King John, nach einer Invasion der Küstenregion durch die Franzosen sämtliche Festlandbesitztümer des Herzogtums wieder an König Phillip II. Nur die winzigen Channel-Islands blieben übrig. Und gerieten über die nächsten Jahrhunderte zum permanenten Zankapfel zwischen den beiden Großmächten dies- und jenseits des Ärmelkanals. Deshalb ist der Einfluss des normannischen beziehungsweise französischen Erbes auf Guernsey auch bis heute noch überall mit Händen greifbar – von der Inselküche bis hin zum lokalen Dialekt. Nicht von ungefähr beschrieb der vielleicht berühmteste Bewohner des Eilands – Exilfranzose und Schriftsteller Victor Hugo – die Kanalinseln einmal als „ein Stück Frankreich, das ins Meer gefallen ist und von England aufgesammelt wurde“. So sprachen die meisten Insulaner bis auf eine kleine aristokratische Elite bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nicht Englisch, sondern einem altnormannischen  Dialekt – das sogenannte Guernésiais. Und noch immer tragen viele Flurstücke und Straßen französische Namen, während man „echte“ Einheimische oft an ihren französischen Vor- oder Familiennamen erkennt. Selbst die Queen wird von besonders patriotisch gesinnten Insulanern bei offiziellen Toasts bis heute zuerst als Duke of Normandy und erst im zweiten Atemzug als Königin von England adressiert.

Spagat zwischen den Kulturen

Die Inselarchitektur dagegen ist, bis auf wenige Überbleibsel aus der normannischen Periode, typisch britisch. Imposante Herrenhäuser im klassisch viktorianischen oder im Tudorstil prägen sie, oft hinter Buchsbaumhecken versteckt. Dazwischen stemmen sich bucklige Cottages, aus Granit oder braunem Backstein aufgemauerte Farmhäuser trotzig gegen den Wind. Währenddessen in den an romantische Stillleben erinnernden Vorgärten Zierrhabarber, duftende Rosensträucher, üppige Kamelienbüsche, Klatschmohn und weißer Baldrian um die Wette blühen. Eine Kulisse wie bei Rosamunde Pilcher. Diese tiefe Verwurzelung in gleich zwei auf den ersten Blick so gegensätzlichen Kulturen, dieser Jahrhunderte währende Spagat zwischen dem Britischen Empire und der ehemals absolutistischen Kontinentalmacht Frankreich, erklärt bis zu einem gewissen Grad auch den politischen Sonderstatus, den die Inseln bis heute genießen. Sie sind offiziell nämlich weder Teil des United Kingdom noch gehören sie zur EU. Vielmehr haben sie den Status einer Crown Dependency und unterstehen als solche unmittelbar der Queen beziehungsweise deren Repräsentanten. Und so weht über dem Eiland auch weder der Union Jack, also die britische Fahne, noch die Europa-Flagge. Statt dessen ist es ein rotes Georgskreuz auf weißem Grund, in dessen Mitte das goldene Kreuz des Normannenherzogs William prangt. William soll es vor mittlerweile mehr als 950 Jahren bei der Schlacht von Hastings im Wappen geführt haben. So etwas nennt man dann wohl echtes Traditionsbewusstsein. Um die ganze Angelegenheit noch etwas komplizierter zu machen, gliedert sich die Vogtei, zu der die vier Hauptinseln des Guernsey-Archipels zusammengeschlossen sind, in drei Regierungsbezirke. Deshalb gelten auf Guernsey, Alderney und Sark zum Teil völlig unterschiedliche Gesetze und Vorschriften. Sark mit seinen gerade mal rund 500 Einwohnern trägt gar bis heute Züge eines mittelalterlichen Feudalstaates. Aber wenigstens teilt man sich, bis auf die große Schwester Jersey, die auch hier aus der Reihe tanzt, eine gemeinsame Währung: das von der inseleigenen Treasury heraus gegebene Guernsey-Pfund. Außerhalb der Kanalinseln kommt man mit dieser Exotenwährung – obwohl 1:1 an das Britische Pfund gekoppelt – allerdings nicht sonderlich weit.

Steueroase und Urlaubsparadies

Während viele Briten die Kanalinseln wegen ihres beinahe mediterranen Klimas schon seit Generationen als Urlaubsparadies zu schätzen wissen, genießen Guernsey und Co. hierzulande den eher etwas zweifelhaften Ruf als Steueroase. Und auch wenn das ein Stück weit zutreffen mag, tut man den Inseln doch unrecht, wollte man sie auf ihre Rolle als Luxusexil steuerscheuer Milliardäre oder windigen Finanzplatz reduzieren. Konzentrieren wir uns also lieber auf die wahren Attraktionen, die dieses aus der Zeit gefallene Inselreich seinen Gästen zu bieten hat. Tatsächlich machen nämlich auch viele Einheimische am liebsten Urlaub auf einer der Nachbarinseln. Das spart nicht nur Zeit und Nerven. Sondern die Inseln haben tatsächlich so ziemlich alles zu bieten, was man sich von einem veritablen Urlaubsparadies erhofft. Und so halten viele Einheimische die nur wenige Fährminuten von Guernsey entfernt liegenden Strände von Herm für schöner als manches Südseeparadies. Sark dagegen lockt Gäste mit schroffen Steilklippen und einsamen Wanderwegen, während Alderney als Dorado für Vogel- und Schmetterlingsfreunde gilt und von zahllosen Artefakten aus der Bronze- und Eisenzeit übersät ist. Guernsey selbst macht seit einigen Jahren als Blumeninsel von sich reden.

Steilküste und Traumstrände

Eines muss man den Einheimischen zugestehen: Jenseits ihres zur Schau getragenen Stolzes auf die – zumindest gefühlte – Unabhängigkeit vom Rest der Welt sind sie am Ende doch ein ziemlich leutseliges Völkchen. Wer in einer Kneipe über einem Pint nicht binnen weniger Minuten in ein Gespräch verwickelt wird, ist selber schuld. Und selbst wenn viele Insulaner den Eindruck erwecken, ständig unheimlich beschäftigt zu sein, wirken sie dabei nie auch nur ansatzweise gestresst. Offenbar eine typische Nebenwirkung des Inseldaseins. Tatsächlich werden auch die meisten Guernsey-Urlauber spätestens nach zwei oder drei Tagen von dieser Tiefenentspannung angesteckt. Viel länger übrigens bleiben die meisten Touristen ohnehin nicht. Stattdessen steht das Inselhüpfen hoch im Kurs. Erst ein nettes Boutique-Hotel oder ein romantisches Cottage auf Guernsey, dann ein Tagesausflug nach Herm, Übernachtung auf Sark und für den Rest der Woche nach Jersey oder Alderney: der beste Weg, um die Landschaften und Temperamente der Inseln kennenzulernen. Aber auch ihre Bewohner. Wie die gebürtige Hamburgerin Gaby Betley, die seit mehr als 30 Jahren auf Guernsey lebt. Eigentlich war sie als Au-Pair auf die Insel gekommen, lernte dort dann aber ihren späteren Mann kennen und blieb. Nach Jahren auf einer gut dotierten Position bei einer der Investmentbanken der Insel beschloss sie nach der Geburt ihrer Kinder etwas kürzer zu treten und hing den gut bezahlten Posten an den Nagel. Stattdessen arbeitet sie nun als Buchhalterin in der Werbeagentur ihres Mannes, führt nebenher im Auftrag von
Guernsey Tourismus deutschsprachige Gäste über die Insel und unterrichtet am kommunalen Ladies College Deutsch. Dieses Job-Multitasking ist insbesondere für die kleineren Channel-Islands ziemlich typisch. Denn um ihr kleines Reich in Gang zu halten, müssen viele Einheimische oft mehrere Jobs oder offizielle Funktionen gleichzeitig ausfüllen. So ist zum Beispiel Herms Inselmanager in Personalunion auch Dorfpolizist und Prediger.

Von Thalasso bis Beauty-Treatment

Bleibt noch das Thema Wellness: Zwar verfügen auf den Inseln nur eine Handvoll Hotels über einen echten Spa-Bereich. Trotzdem sind die Channel-Islands in jeder Hinsicht eine echte Wellnessregion. Schließlich füllt man seine Lungen hier mit reiner, jodhaltiger Seeluft, die den Stoffwechsel auf
Trab bringt, praktiziert in natürlichen Gezeitenpools bei einem  Bad in Seewasser angewandte Thalassotherapie oder peppt ein Wannenbad mit selbst gesammelten Algen zum belebenden Beauty-Treatment auf. Die gesunde Inselküche macht außerdem jede Diät überflüssig. Wer sich dann noch per pedes oder Fahrrad über die Inseln bewegt, kann sich sein individuelles Wellness-Package schnüren. Die professionellen Spa-Angebote sind dann nur noch ein I-Tüpfelchen.

Sark – ein Dorf im Ärmelkanal

Als mitunter etwas eigenbrödlerisch gelten die nicht mal 500 Einwohner des winzigen Eilands Sark. Doch das ist vielleicht auch kein Wunder. Denn auf Sark, ganze 5,5 Quadratkilometer groß, sind die Lebensbedingungen auch recht eigenwillig. Die viertkleinste der Kanalinseln ist unterteilt in die verbundenen Felsinseln Great und Little Sark und quasi ein Dorf im Ärmelkanal. Dem Fortschritt auf dem Festland zum Trotz ist die Zeit hier stehengeblieben: keine Autos, keine geteerten Straßen, keine Partystrände. Immerhin: Es gibt eine Einkaufsstraße – viele Läden haben bis 16 Uhr geöffnet. Mit seinen 114 Metern ist der Le Moulin die höchste Erhebung der Insel, zu der das (noch kleinere) Eiland Brecqhou direkt nebenan gehört. Orte im klassischen Sinn gibt es nicht, dafür ein paar Ansammlungen von Häusern. Auch wenn das Klima gleichmäßig ist und selbst im Winter kaum Frost herrscht, ist das Wetter mitunter unberechenbar. Bei Winterstürmen muss der Bootsverkehr eingestellt werden. Dann sitzen die Insulaner also auf ihrer Scholle mitten im Kanal fest. Tagesausflügler und Übernachtungsgäste lassen die Einwohnerzahl vor allem im Sommer mitunter auf das  Doppelte anschwellen. Die Besucher finden ruhige Plätze und viel Grün vor. Und eine überschaubare Fauna: Es gibt Kaninchen, Ratten und Gartenspitzmäuse – und seit 1986 sogar Igel. Sark trägt den offi ziellen Titel Dark Sky Island (etwa: Insel mit dunklem Himmel). Denn in der Nacht werden nicht nur alle unnötigen Lichter ausgeschaltet, sondern die Luft ist außerdem so klar und rein wie sonst kaum irgendwo in Europa. Ideale Voraussetzungen also für Sternengucker mit Hang zur Romantik. Auf der Insel präsentiert sich die Milchstraße am Nachthimmel in solch atemberaubender Pracht, wie man das sonst allenfalls von einsamen Südseeinseln kennt. Einfach magisch.

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Foto: (c) Sark images for Visit Guernsey – Chris George Photography